Brinkers Brief vom 7. März 2025

Liebe Freunde,

„Berlin versinkt im Verkehrschaos“ betitelte „Focus online“ in dieser Woche einen Artikel, nachdem am Donnerstagabend nach der Stadtautobahnbrücke über die Ringbahn auch die Bahnstrecke darunter gesperrt werden musste. Normalerweise wäre ich geneigt, derartige Formulierungen als Übertreibung abzutun, aber das Drama, das sich seit zweieinhalb Wochen dort in Westend stückchenweise entfaltet, ist tatsächlich der schlimmste verkehrspolitische GAU, den Berlin jemals erlebt hat.

Das Traurige daran: Die Vorgänge um die bröselnde Brücke (und ihr ebenfalls marodes Gegenstück etwas weiter im Norden, die Westendbrücke) sind, wie es der Verkehrsexperte der AfD-Fraktion, Rolf Wiedenhaupt, vollkommen richtig formuliert hat, auch ein Symbol für das Politikversagen in Berlin. Dieses Versagen zeigt sich, neben vielen anderen Bereichen, auch in einer immer stärker zerfallenden Infrastruktur.

Eine Geschichte um die Ringbahnbrücke wirft ein grelles Schlaglicht auf den Schlendrian, die Nachlässigkeit und die Gleichgültigkeit, mit der die Berliner Senate und die zuständigen Verwaltungen dem Verfall der Hauptstadt seit Jahren und Jahrzehnten mehr oder weniger tatenlos zuschauen:

Der grüne Baustadtrat von Charlottenburg-Wilmersdorf, Oliver Schruoffenegger, berichtete in dieser Woche im Verkehrsausschuss des Abgeordnetenhauses. Er erklärte, als er sein Amt im Mai 2016 angetreten habe, sei eine der ersten Informationen, die er von seiner Verwaltung bekommen habe, gewesen: „Sprich bloß niemals die Ringbahnbrücke an! Wir wissen seit 2015, dass die marode ist, und wenn’s dumm läuft, müssen wir die Stadtautobahn sperren.“

Schruoffenegger ist dabei fein raus, denn der Bezirk ist für die Stadtautobahn nicht zuständig. Tatsächlich in der Verantwortung für den Erhalt der Bundesautobahnen ist heute die Autobahngesellschaft des Bundes. Bis 2021 allerdings lag die Zuständigkeit bei der Senats-Verkehrsverwaltung. Verantwortliche Senatoren zwischen 2015 und 2021 waren: Andreas Geisel (SPD), Regine Günther (Grüne) und Bettina Jarasch (Grüne). Letztere übrigens ließ sich zu Beginn ihrer Amtszeit damit zitieren, man müsse sich überlegen, wie man die Stadtautobahn schließen könnte, anstatt sie in Neukölln zu verlängern. Merken Sie was?

Nun ist das Kind tief im Brunnen, einer der meistbefahrenen Autobahnabschnitte Europas ist auf unabsehbare Zeit zum Nadelöhr geworden und die darunterliegende Bahnstrecke ist bis auf weiteres (und vermutlich sehr viel weiteres) gesperrt, so dass die Berliner, die von Nord nach Süd und umgekehrt wollen, dem Chaos auf der Straße nicht einmal durch Ausweichen auf den ÖPNV entgehen können.

Direkt neben der maroden Brücke liegt ein weiterer Berliner Sanierungsfall: Das ICC. Einstmals das meistausgezeichnete Kongresszentrum der Welt, rottet es seit elf Jahren vor sich hin, von Zwischennutzungen als Flüchtlingsunterkunft und Corona-Impfzentrum abgesehen. Die Messe Berlin weigerte sich nach langem Klagen über die hohen Betriebskosten, das Gebäude weiterhin zu betreiben und legte es am 10. April 2014 still. Seither kostet das denkmalgeschützte Bauwerk Jahr für Jahr 2 Millionen Euro nur fürs Leerstehen. Vernünftige Ideen für den Betrieb hat anscheinend niemand, am allerwenigsten der Senat. Der behilft sich mit Durchhalteparolen am Gebäude: „Dauert noch ein bisschen, aber wird mega“, verkündet ein dort angebrachtes Transparent. Beides kann man glauben. Muss man aber ganz sicher nicht.

Die Liste der Berliner Sanierungsfälle ließe sich nahezu unendlich fortsetzen: Mehr als 80 (!) Brücken in Berlin gelten als mehr oder weniger baufällig. In der zurückliegenden Woche waren die Zeitungen voll mit Berichten über den beklagenswerten Zustand vieler Schultoiletten, in der Woche davor erbrachte eine Anfrage von meinem Kollegen Karsten Woldeit und mir, dass der Sanierungsbedarf bei den Liegenschaften der Feuerwehr sich derzeit auf mehr als 415 Millionen Euro summiert.

Bei den Polizeigebäuden ist ein geradezu raketenhafter Anstieg zu verzeichnen: Ging der Senat Anfang 2022 noch von 1,2 bis 1,4 Milliarden Euro Sanierungsbedarf aus, waren es Ende 2023 bereits 2,1 Milliarden. Für alle landeseigenen Gebäude geht der Senat (Stand: Mai 2024) von 5,15 Milliarden Euro aus, hinzu kommen, wir haben’s ja, 2,8 Milliarden für deren energetische Sanierung, denn wir wollen ja in elf Jahren „klimaneutral“ sein. Und die vier Berliner Universitäten schätzten Mitte 2023 den Sanierungsbedarf an ihren Gebäuden auf – sitzen Sie…? – 8,4 Milliarden Euro.

Seit die AfD 2016 erstmals ins Abgeordnetenhaus eingezogen ist, fordern wir den Senat auf, uns endlich einen vollständigen, nach Dringlichkeit gestaffelten Überblick über den Sanierungsstau in Berlin zu geben – vergeblich. Entweder ist der Senat nicht imstande, eine solche Übersicht zu erstellen, oder er hat sehr wohl den Überblick, will die Öffentlichkeit aber wohlweislich nicht an diesem Wissen teilhaben lassen. Ich weiß nicht, welche Alternative ich beunruhigender finde…

Tatsache ist: Berlin zerbröselt, weil es seit mehreren Jahrzehnten vernachlässigt wird. Egal, ob nun CDU, SPD, Grüne oder Linke im Senat saßen, sie alle haben unsere Stadt sträflich vernachlässigt. Ist ja auch irgendwie nachvollziehbar: Bauarbeiten machen Krach und Dreck und Staus. Und am Ende ist man gar nicht mehr im Amt, wenn sie denn endlich fertig sind, und der Nachfolger darf die Lorbeeren einheimsen und schicke Fotos beim Durchschneiden von Bändern machen lassen. Verantwortungslos war (und ist) es dennoch, die Zuständigkeit einfach auf die nachfolgenden Generationen zu verschieben.

In dieser Woche wurde übrigens noch eine weitere Zahl bekannt, die unter den vorgenannten Aspekten nochmal zusätzlich bemerkenswert ist: Die Kosten, die Berlin für Flüchtlinge aufbringt, saldieren sich auf 2,1 Milliarden Euro! Pro Jahr!! Das sind 2.100 Millionen Euro oder 74.126 VW Golf in der Grundausstattung. Oder eben hunderte modern sanierte Schultoiletten oder alle Feuerwehrgebäude Berlins fünfmal durchsaniert oder alle Polizeigebäude einmal auf dem neuesten Stand.

Das Geld wäre also da. Es wird nur nicht für die Berliner ausgegeben. Und deswegen wird Berlin auch weiterhin zerbröseln.

Haben Sie, trotz allem, ein schönes Wochenende!

Herzlichst, Ihre

Kristin Brinker